Sonntag, 20. August 2017

Predigt am 20. August 2017 (10. Sonntag nach Trinitatis)

Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge.
Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: „So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: ,Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.‘ Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“
2. Mose (Exodus) 19, 1-6

Wir Menschen sind in der Regel hier unten auf der Erde unterwegs. Zu Fuß oder mit fahrbarem Untersatz. Über Hügel und durch Täler. Und da können wir oft nicht sehr weit sehen. Nicht mal von Hohnstein bis Ehrenberg/Lichtenhain.
Es gibt natürlich auch Berge; von denen kann man weit sehen, und sie sind selber weit zu sehen – so wie die bekannten Berge der Sächsischen Schweiz oder des Erzgebirges. Von so einem Berg aus hat man einen herrlichen Überblick, einen weiten Blick über das Land. Und trotzdem bleiben Orte wie Ehrenberg oder Lichtenhain in den Tälern versteckt.
Am faszinierendsten für mich ist es, mich in ein Flugzeug zu setzen. Schon gleich nach dem Start wird der Überblick immer größer. Ich sehe Straßen, Dörfer, Städte, ganze Landstriche, Küsten, Inseln... Ehrenberg, Hohnstein, Sebnitz, Neustadt, alles auf einen Blick – wenn ich die Orte von da oben überhaupt noch erkennen kann.
Unsere normale Perspektive ist der Blick von unten. Die Froschperspektive. Nur manchmal haben wir die Gelegenheit von oben zu schauen: Aus der Vogelperspektive. Aus der Himmelsperspektive. Manchmal bekommen wir sowas wie einen Überblick.
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Die Froschperspektive:
Sie ziehen durch die Wüste (wo ein Frosch nicht mal überleben würde). Seit drei Monaten schon ziehen sie durch die Wüste. Sie hatten das fruchtbare Land am Nildelta hinter sich gelassen, und da begann schon gleich die Wüste: Steine, Geröll, ein paar trockene Sträucher und Euphorbien, dazwischen Sand. Seit drei Monaten sind sie schon so unterwegs. Sie haben nur, was sie auf dem Leib haben und was sie und ihre Tiere, ein paar Esel, tragen können. Vielleicht sind noch ein paar Ziegen mit ihnen unterwegs, wenn sie die nicht schon verspeist haben. Es ist mühevoll, genug zu trinken zu finden, und das dann in Schläuchen mit sich zu führen. Es ist anstrengend, jeden Morgen hinauszugehen und den Tamariskenhonig aufzusammeln, der ihnen in der größten Not als Himmelsspeise erschienen war: Manna. Es war schlimm, auch noch mit feindlichen Beduinenstämmen kämpfen zu müssen. Es hatte Tote und Verletzte gegeben. So sind sie unterwegs, seit drei Monaten. Am liebsten wollen sie zurück: Lieber Sklaven sein in Ägypten, als in der Wüste verhungern, verdursten oder von Feinden getötet werden. Aber es gibt kein Zurück. Nur ein Ziel: das Gelobte Land. Aber es ist nicht zu sehen. Nicht von hier unten. Nicht aus der Froschperspektive.
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Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai.
Nach drei Monaten Wüste kommen sie an: nicht im Gelobten Land, sondern in der Wüste.
Nach drei Monaten Wüste kommen sie an: bei Gott.
Am Sinai. Dort ist ER zuhause. Jedenfalls hat Mose IHN dort kennengelernt. Und jetzt sollen sie IHN kennenlernen.
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Mose stieg hinauf zu Gott.
Und mit jedem Schritt wird der Blick weiter, sieht er mehr. Er sieht unter sich die Zelte und Unterstände, die sie sich aufgebaut haben. Er sieht dazwischen die Männer und Frauen und Kinder herumwuseln. Und er sieht, wie viele es sind. Er sieht die dürre Umgebung, Wüste eben.
Und er sieht noch mehr. Er sieht das Wunder: Dass sie bis hierher gekommen sind. Dass sie noch leben. Dass die Ägypter sie ziehen ließen. Dass die Verfolger im Meer ertranken. Dass sie unterwegs nicht verhungert und verdurstet sind. Und dass die Feinde sie nicht vernichtet haben. Dass sie tatsächlich angekommen sind, hier am Gottesberg, hier, wo ER geredet hatte.
Mose sieht mehr.
Er nähert sich der Vogelperspektive.
Er nähert sich derr Himmelsperspektive. Er nähert sich der Gottesperspektive.
Und dann hört er sie wieder, Gottes Stimme. Von noch viel weiter oben, als er selber schon ist. Gott sieht von ganz oben, er sieht vom Himmel herab.
Er sieht von Ägypten bis ins Gelobte Land.
Er sieht, wo sie herkommen und wo sie hingehen.
Er sieht, was sie durchlitten haben.
Und er sieht, wie sie überlebt haben.
Und er erinnert sie daran, was sie gesehen haben – oder hätten sehen müssen:
Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.
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Die Froschperspektive, der Blick von unten, der sieht Leid, Entbehrungen, Kampf und Angst um das Morgen.
Die Himmelsperspektive, der Blick von oben sieht  Adlerflügel, sieht Wunder, sieht Bewahrung und Segen.
Er sieht auch in die Zukunft.
Die Wege, die vor ihnen liegen.
Und den großen Plan, der schon vor Jahrhunderten begonnen hatte, als Gott zu Abraham sagte: Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein. Und: In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden (Genesis 12,2f). Dieser Plan geht weiter: Ihr sollt mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein.
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Israel, das Volk, aus dessen Geschichte wir hier hören, ist immer wieder durch Wüsten gegangen. Von Ägypten ins Gelobte Land. Aus diesem Land in die Verbannung nach Babylon. Von dort wieder zurück. Durch die Wüstenzeiten der Fremdherrschaft. Durch die Verwüstung Jerusalems und die endgültige Zerstörung des Tempels. Durch Jahrhunderte der Zerstreuung und Verfolgung. Am meisten verfolgt wurden sie von denen, die sich auf denselben Gott beriefen: die Christen, die der Meinung waren, sie wären das wahre Israel und das alte Gottesvolk wäre für immer verworfen. Sie sind durch Schlimmeres als durch die Wüste gegangen: als man sie zu Hunderttausenden in Viehwaggons pferchte, auf Todesmärsche schickte, in Lager steckte und in die Gaskammern trieb.
Gottes eigenes Volk? Und da lässt er sie so leiden?
Vielleicht ist das doch nur der Blick von unten, der das Schlimme und das Schlimmste sieht – und doch nicht alles sieht.
Denn da ist auch das Wunder – trotz allem: Es gibt sie noch. Es gibt sie wieder. Im Land, in das sie damals schon unterwegs waren. Jetzt heißt es wieder Israel. Seit 69 Jahren. Zum ersten Mal nach mehr als zweieinhalb Jahrtausenden.
Vielleicht ist das der Blick von oben, der weiter sieht. Der Blick, der erkennt: Dies Volk ist Gottes Eigentum. Ein heiliges Volk. Deshalb gehasst und geschunden von aller Welt. Deshalb bewahrt und gesegnet von Gott. Trotz allem.
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Israels Geschichte ist nicht unsere Geschichte. Israels Erwählung ist nicht unsere Erwählung. Aber: Israels Gott ist auch unser Gott. Denn die ganze Erde ist sein.
Darum hoffe und vertraue ich darauf, dass auch unsere Wege, auch wenn sie uns durch die Wüste führen mögen, zu Gott führen mögen, zu seinem Berg gewissermaßen, wo wir seine Stimme hören und aus seiner Perspektive weiter sehen. Und dass sie uns dann noch weiter führen – von Gott zu Gott. Am Ende in das Gelobte Land, das er für alle Welt bereitet hat.

1 Kommentar:

  1. genau, aus beiden perspektiven das weltgeschehen anschauen und dann jeder für sich einorden.

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