Sonntag, 24. September 2017

Predigt am 24. September 2017 (Erntedanktag)

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: „Siehe, hier bin ich.“
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne“.
Jesaja 58, 7-12

Liebe Schwester, lieber Bruder,
du hast die Wahl. Heute an der Urne. Oder du hast schon gewählt. – Ich darf nicht, weil ich noch keine drei Monate wieder in Deutschland lebe. So ein Quatsch!
Du hast die Wahl. Und irgendwie ist das auch komisch: Dass jetzt einer bestimmten Partei eine Stimme, meine Stimme fehlt, das ändert Nullkommafastnichts am Ergebnis. Und wo du dein Kreuzchen machst, das ändert auch Nullkommafastnichts am Ergebnis. Und doch macht die große Summe der Nullkommafastnichtse am Ende einen Unterschied. Deine Stimme bewirkt fast nichts, und sie ist doch wichtig.
Das ist nicht nur bei Wahlen so. Das ist überhaupt so. Du bist einer von über 80 Millionen Bundesbürgern – was willst du schon ändern? Du bist einer von über 7 Milliarden Weltbürgern – was kannst du schon für Einfluss nehmen auf das Weltgeschehen? Und doch: Die Mächtigen, die wirklich als einzelne etwas bewegen und entscheiden können – über Krieg und Frieden, über offene oder geschlossene Grenzen, über Leben und Tod –, die ganz Mächtigen fürchten die Stimmen der vielen Einzelnen. Darum versuchen sie immer wieder Wahlen zu beeinflussen, zu manipulieren, oder sie schaffen sie gleich ganz ab.
Du hast die Wahl. Du kannst dich entscheiden. Deine Wahl bewegt vielleicht nur eine Winzigkeit. Aber vielleicht kommt es gerade auf diese Winzigkeit an. So wie der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Sturm auslösen kann, so können deine Entscheidungen die Welt bewegen.
Kennst du #fedidwgugl? Das ist ein Hashtag, ein Kürzel auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken, den sich eine der Parteien unseres Landes ausgedacht hat. #fedidwgugl soll heißen „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Zuerst haben sich alle über dieses Kürzel kaputt gelacht. Aber vielleicht war diese scheinbare Ungeschicklichkeit mit so einem dadaistischen Kunstwort am Ende gar nicht so dumm. So bleibt der Claim tatsächlich irgendwie hängen: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ – Versteh mich nicht falsch! Ich will gar nicht für diese bestimmte Partei werben, ich nenne sie ja auch gar nicht mit Namen. Aber letztlich hat sie genau den Punkt getroffen, um den es geht, wenn du wählen gehst: In welchem Land willst du leben? Wie soll es aussehen, damit du gut und gerne da lebst? – Darum geht es letztlich, glaube ich fast allen, die sich heute zur Wahl stellen. (Außer denen, die Deutschland am liebsten abschaffen wollen.)

Du hast die Wahl, sagt Gott. Für ein Land, für eine Welt, in der du gut und gerne leben kannst. Und nicht nur du, sondern auch deine Nächsten und Übernächsten, deine Kinder und deine Kindeskinder.
Du hast die Wahl, nicht nur einmal aller vier Jahre. Sondern immer wieder, jeden Tag. Denn wie du leben willst, das entscheidest du heute und morgen und jeden Tag neu. Und wie deine Mitmenschen und deine Nachkommen leben, das entscheidest du hier und jetzt.
Du hast die Wahl, ob und wie viel du bereit bist zu teilen, abzugeben: von deinem Geld, von deiner Zeit, von deiner Liebe.
Du hast die Wahl, wie du mit deinem Mitarbeiter umgehst oder mit deinem Mitbewerber oder mit deinem Mitbewohner.
Du hast die Wahl, wie du andere behandelst: die anders aussehen, anders sprechen, anders denken, anders fühlen, anders wählen als du.
Vielleicht behandelst du sie doch am besten so, dass auch sie gut und gerne mit dir zusammen leben.
Denn kann es dir gut gehen, wenn es deinem Nächsten schlecht geht?
Du hast die Wahl, und deine Wahl hat Konsequenzen.
Willst du, dass es nur dir gut geht und dem anderen nicht? – Dann wird es keinem von euch gut gehen.
Willst du, dass sie dich gerecht behandeln, und gestehst dem anderen sein Recht nicht zu? – Dann werdet ihr beide benachteiligt sein.
Willst du, dass sie dich schätzen und respektieren und behandelst andere wie Dreck? – Dann werdet ihr beide keinen Respekt erfahren.
Willst du Gottes Segen haben und erbittest ihn nicht auch für den anderen? – Dann werdet ihr beide ungesegnet bleiben.
Du hast die Wahl, sagt Gott. Ich mache dir keine leeren Wahlkampfversprechen. Ich sage nicht, dass ich alle deine Probleme lösen werde. Ich verspreche dir nicht das Blaue vom Himmel und den Himmel auf Erden. Ich bin nicht damit zufrieden, wenn du dich aller paar Jahre (wie bei der Bundestagswahl) oder aller paar Monate (etwa Erntedank und Weihnachten und Ostern) oder aller paar Wochen (wie viele, die sich für gute Christen halten) mal bei mir in der Kirche sehen lässt und mich ansonsten in Ruhe regieren lässt. Denn ich regiere nicht, indem ich euch wie Marionetten oder  – hier in Hohnstein muss ich sagen: wie Kasperpuppen – nach meiner Pfeife tanzen lasse. Ich will in euren Herzen regieren.
Du hast die Wahl, ob du mich regieren lässt oder jemand anders oder etwas anders.
Deine Wahl wird nach außen sichtbar fast nichts verändern. Aber aus den vielen Fastnichtsen wird etwas Großes: eine Welt, in der wir, in der wir alle gut und gerne leben: das Reich Gottes.

Heute ist nicht nur Wahlsonntag. Heute ist Erntedank.
Wer mit uns Erntedank feiert, der hat auch eine Wahl getroffen. Er hat sich dafür entschieden, es nicht für selbstverständlich zu nehmen, dass wir in dieser Welt gut und gerne leben können. Er sieht den Segen, der gewachsen ist und er sagt Danke dafür.
Er sieht aber auch den Mangel, das, was fehlt zum guten Leben.
Und er sieht den Nächsten, den, der Mangel leidet, der auch gut und gerne leben will, und teilt mit ihm: Inzwischen mehr symbolisch die Früchte des Feldes und des Gartens. Und praktisch auch Geld und Gut und Zeit und Verständnis und Respekt und Liebe.

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!

Sonntag, 17. September 2017

Predigt am 17. September 2017 (14. Sonntag nach Trinitatis)

Es kam zu Jesus ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: „Willst du, so kannst du mich reinigen.“ Und es jammerte ihn, und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: „Ich will’s tun; sei rein!“ Und alsbald wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. Und Jesus bedrohte ihn und trieb ihn alsbald von sich und sprach zu ihm: „Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.
Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, sodass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; und sie kamen zu ihm von allen Enden.
Markus 1, 40-45


An manchen Stellen ist die deutsche Sprache einmalig. Zum Beispiel, wenn sie für einen Lepra-Kranken das Wort Aussätziger verwendet. Ja, es ist inzwischen ein veraltetes Wort, und doch steht es noch durchweg in den deutschen Bibelübersetzungen, da, wo im Urtext lepros steht. Es ist sogar sprichwörtlich geworden im Deutschen: Man behandelt jemanden wie einen Aussätzigen. (Nein, natürlich tut man das nicht!) Aber weiß überhaupt noch jeder, der das sagt, was damit einmal gemeint war?
Der Aussätzige ist ein Ausgesetzter. Herausgesetzt aus der Gemeinschaft der Menschen. Zur Zeit Jesu lebten Aussätzige außerhalb der Ortschaften. Man stellte ihnen von ferne Nahrung hin. Jeder direkte Kontakt war verboten. Wenn ein Aussätziger sich anderen näherte, dann musste er „Unrein, unrein!“ rufen.
Es waren gute Regeln – für die andern. Denn Aussatz, Lepra, ist ansteckend. Sie wussten damals nichts von Bakterien und Infektionen. Aber sie ahnten etwas davon, indem sie die Krankheit für eine Unreinheit hielten. Und Unreinheit, das wissen wir, kann krank machen. Wir bringen ja schon den Kleinsten das Händewaschen bei.
Gute Regeln für die andern – schreckliche Regeln für den Betroffenen. Warst du gestern noch ein angesehener Mitbürger, Familienvater, Handwerksmeister, konnte dich morgen schon die Diagnose Aussatz – Lepra zum Aussätzigen machen, der in zerrissenen Kleidern draußen vor der Stadt leben musste.
„Unrein, unrein!“ Und die Unreinheit kam nicht von außen. Sie ging nicht weg durch Händewaschen. Sie kam von innen und zeigte sich außen am Körper. Und viele glaubten, dass sie gar nicht aus dem Körper kam, sondern aus der Seele. Welche Schuld, welche Verfehlungen verunreinigten einen Menschen so sehr, dass selbst sein Leib davon verunreinigt würde!
Aussätzig, ausgesetzt.
Herausgesetzt aus allem, was normales Leben ist:
Heraus aus der Familie, aus der Arbeit, aus dem Freundeskreis.
Heraus aus der zivilisierten Menschheit.
Noch lebendig – und doch schon wie tot.
Dazu ein Leib, der noch lebend schon zu sterben beginnt.
Ausgesetzt der Einsamkeit – oder der Gemeinschaft mit denen, mit denen man noch eben um keinen Preis Gemeinschaft haben wollte: der Gemeinschaft der Ausgesetzten, der Aussätzigen.
Es ist wie Gefängnis.
Oder Psychiatrie.
Und es gibt kein Zurück.
Nur theoretisch.
In der heiligen Schrift steht, dass Priester die Heilung von Aussatz bestätigen sollen.
Aber hat es das jemals gegeben?
Wenn du einmal ein Aussätziger geworden bist, wenn sie dich einmal abgeschrieben haben, verurteilt, ausgestoßen, wenn du einmal das Etikett umgehängt bekommen hast „Der ist anders; der gehört nicht zu uns“, wird es jemals ein Zurück geben, einen Neuanfang?

Und es kam zu Jesus ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: „Willst du, so kannst du mich reinigen.“ Und es jammerte ihn, und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: „Ich will’s tun; sei rein!“

Da ist einer, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat.
Und ein anderer, dem das Elend noch zu Herzen geht.
Einer, der glaubt, dass das Unmögliche möglich ist.
Und ein anderer, der das Unmögliche wirklich werden lässt, weil er kann und will.
Jesus tut das Unmögliche:
Er streckt die Hand aus zu dem, der sonst alle auf Abstand hält.
Er berührt den Unberührbaren.
Er verunreinigt sich an dem Unreinen.
Und macht ihn rein.
Es ist das ganz Unmögliche, das nur bei Gott möglich ist: dass ein unheilbar Kranker geheilt wird.
Aber es ist auch das ganz Unmögliche, das bei Menschen möglich ist: dass einer sich für den andern unrein macht. Dass einer sich für den andern die Finger schmutzig macht und vielleicht auch mehr als die Finger.
Wenn Eltern ihren Kindern oder auch wenn Kinder ihren Eltern den Hintern abwischen, dann ist das sowas.
Und wenn einer dem andern den Hintern rettet und dabei sein eigenes Leben riskiert, dann ist das sowas.
Jesus macht sich die Finger schmutzig. Er berührt den Unreinen und riskiert, seine eigene gottgleiche Reinheit zu verlieren.
Er tut das immer wieder: Jedesmal wenn er sich mit Menschen einlässt, die nicht nur leiblich krank oder unrein sind, sondern deren Seelen schmutzig sind (und vielleicht auch verletzt): Zöllner, Huren, Sünder heißen sie in der Bibel.
Die sich selber für rein halten, rümpfen die Nase: Pharisäer heißen sie in der Bibel.
Aber Jesus ist nicht in die Welt gekommen, um uns Gottes porentiefe Reinheit zu präsentieren, sondern um sich auf unsere Unreinheit einzulassen und uns rein zu machen.
In letzter Konsequenz dann am Kreuz: Er nimmt die Unreinheit der ganzen Welt auf sich, er trägt die Sünde der Welt. Er stirbt an ihr, und macht uns dadurch rein – von allem, was uns verunreinigt und aus der Gemeinschaft mit Gott und Menschen herausgesetzt hat.
So weit, so gut, und so könnte die Geschichte schon enden: Jesus heilt. Jesus reinigt. Jesus vergibt. Und der Aussätzige ist kein Aussätziger mehr. Alles ist gut.

Es ist nicht alles gut.
Jesus sagt nicht: „Geh zurück zu deiner Familie und freu dich deines Lebens.“
Jesus sagt nicht: „Geh in die Stadt und erzähle allen, was dir Großartiges geschehen ist (und vergiss nicht zu erwähnen, wer es war, der dich geheilt hat!).“
Jesus sagt: „Geh zum Priester. Der kann überprüfen und bestätigen, dass du geheilt bist und gereinigt bist. Und dann bringe das vorgeschrieben Opfer dar. Dass alles seine Ordnung hat. Dann erst ist alles gut.
Und sonst sagst du niemandem ein Wort.“
Nur, wie soll das gehen: niemandem etwas sagen?
Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, hat Jesus ja selbst gesagt. (Und weil ich es immer häufiger höre, dass aus dem Wes das Herz … ein Wem das Herz … wird, sage ich es noch mal, wie es wirklich gemeint und richtig zu übersetzen ist: Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über.)
Das Herz des geheilten Aussätzigen ist sicher übervoll: von Freude, von Dankbarkeit, von Begeisterung, von Hoffnung, von Leben. Denn das Unmögliche ist wahr geworden: Er lebt wieder, er ist nicht mehr aussätzig, nicht mehr isoliert, er gehört wieder dazu! Und darum setzt er sich als erstes der neu zurückgewonnenen Gemeinschaft der Menschen aus. Er stürzt sich ins Leben. Er badet in der Menge derer, für die er gerade eben noch unberührbar war. Wer wollte ihm das verdenken?
Jesus. Er wollte es anders. Nicht Spektakel und Mirakel. Nicht den Ruhm des Wundertäters. Denn so geht es dann weiter: Kaum dass Jesus einen Ort betritt, sind die Massen um ihn herum. Alle wollen ihn sehen, alle erwarten etwas von ihm. Große Worte, aber mehr noch: große Wunder.
Nur diejenigen, die Jesus am nötigsten brauchen, sind nicht dabei. Die sind immer noch draußen vor der Stadt: unrein und aussätzig. Die können zu keiner Massenveranstaltung gehen.
Oder sie sind alt und pflegebedürftig und kommen nicht mehr vor die Tür.
Oder sie sind wirklich richtig krank und schwach.
Oder sie sitzen im Gefängnis.
Oder in der Psychiatrie.
Oder sie haben einfach Angst vor vielen Menschen und öffentlichem Aufsehen.
So viele Aussätzige, so viele Ausgesetzte, denen die Berührung mit Jesus gut tun würde. Aber sie bleiben ausgeschlossen.
Und dann ist da auch Jesus selbst. Er flieht vor den Massen, vor der Gemeinschaft der Menschen, immer wieder. Er zieht sich zurück an einsame Orte. Jesus ist offenbar kein extrovertierter Typ. Keiner, der immer andere um sich herum braucht, damit es ihm gut geht. Im Gegenteil, er sucht immer wieder die Einsamkeit. Das Allein-Sein. Dann geht es ihm gut. Denn Allein-Sein heißt für ihn: Allein sein mit Gott.
Jesus, der sich der Unreinheit und dem Aussatz der Welt aussetzt, braucht die Augenblicke, in denen er aussetzen kann, und in denen er sich der Liebe und der Berührung durch seinen himmlischer Vater aussetzt. So empfängt er die Kraft, auch wieder für andere da zu sein.

Was für eine merkwürdig gegenläufige Geschichte:
Ein Aussätziger tritt aus der Einsamkeit heraus, wird von Jesus berührt und kann zurückkehren in die Gemeinschaft der Menschen. Er gehört wieder dazu. Er ist kein Aussätziger mehr.
Und Jesus kommt aus der Gemeinschaft der Menschen, trifft den einzelnen, den Aussätzigen, berührt ihn, den Unberührbaren. Und zieht sich danach ganz zurück an die einsamen Orte, wo sonst nur Aussätzige leben.

Und wir? Wahrscheinlich kennen wir beide Bewegungsrichtungen: Hinein in das große Miteinander und auch Heraus aus dem Miteinander. Manchmal wollen wir das eine nicht und manchmal das andere: Uns der Einsamkeit aussetzen oder uns den anderen Menschen aussetzen, das kann beides belastend sein. Und es kann beides gut tun. Je nachdem, wer wir sind und wie wir drauf sind.
Gut ist es, wenn unsere Gemeinschaft auch christliche Gemeinschaft ist: Gemeinde, in der wir Jesus begegnen.
Gut ist es, wenn auch unsere Einsamkeit ein Ort ist, an dem wir Jesus begegnen.
Er kann und will uns berühren, uns rein machen und heil.

Sonntag, 10. September 2017

Predigt am 10. September 2017 (13. Sonntag nach Trinitatis)

Gottesdienst (mit Taufe und) Tauferinnerung


Liebe Schwestern und Brüder,
reden wir über Familie. Das passt ja auch zur Taufe. Taufe ist ein Familienfest. Ein kleiner neuer (oder vielleicht auch nicht mehr ganz so neuer) Mensch wird willkommen geheißen – in seiner Familie, von seiner Familie: Eltern, Geschwister, Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Und oft genug sind auch die Taufpaten Teil der Familie.
Familie heißt: Du bist nicht allein auf der Welt. Du hast Menschen, die dir ganz nahe stehen. Die sich um dich kümmern, für dich sorgen: wenn du es noch nicht selber kannst. Und im Idealfall auch wieder, wenn du es nicht mehr selber kannst.
Familie, das ist auch ein Thema bei den anstehenden Wahlen. Was tut ihr für Familien?, werden die Politiker und Parteien gefragt. Oder: Wie steht ihr überhaupt zur Familie? Und: Was versteht ihr unter Familie? – „Familie ist dort, wo Kinder sind“, hieß es mal. Dann ist auch die alleinerziehende Mutter Familie: Kleinfamilie, Kleinstfamilie. Oder das schwule Paar mit Pflegekind: Familie ohne Blutsbande. Oder sogar die Kita-Gruppe: Familie ohne Eltern, Familie auf Zeit. Und wir haben doch das Gefühl: Da fehlt was. Familie soll mehr sein. Vielleicht doch Mutter, Vater, Kinder; Großeltern, Onkel und Cousinen. Und auch dann noch, wenn die Kinder groß sind, bleiben wir Familie. Wir gehören zusammen. Wenn sich Kinder und Eltern voneinander abwenden, wenn Geschwister nichts mehr voneinander wissen wollen, wenn sich Ehepartner trennen, dann ist das immer schmerzhaft, weil etwas zerbricht, was uns ganz tief und ursprünglich verbindet: die Familie.
Familie ist auch ein Thema bei Jesus. Nicht nur, wenn er darüber spricht, dass Ehepartner beieinander bleiben sollen („Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“) oder wenn er die Kinder segnet. Nein, auch ganz anders. Denn Jesus definiert Familie ganz neu.
Während Jesus mit den Schriftgelehrten diskutierte, waren seine Mutter und seine Geschwister gekommen. Sie blieben vor dem Haus stehen und schickten jemand zu ihm, um ihn zu rufen. Die Menschen saßen dicht gedrängt um Jesus herum, als man ihm ausrichtete: „Deine Mutter und deine Brüder und Schwestern sind draußen und wollen dich sprechen.“ – „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“, erwiderte Jesus. Er sah die an, die rings um ihn herum saßen, und fuhr fort: „Seht, das sind meine Mutter und meine Geschwister! Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter.“
Markus 3, 31-35
Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?
Für Jesus jedenfalls nicht die Kleinfamilie in Nazareth, in der er aufgewachsen ist. Und schon das war ja eher eine Patchwork-Familie: Mit zwei Vätern. Und der eine ist inzwischen schon nicht mehr da.
Vielleicht ist das ja auch gerade der springende Punkt, warum sie ihn suchen: Jesus ist der Älteste, und er soll sich um seine Mutter und seine jüngeren Geschwister kümmern. Aber er will nicht. Er ist weggegangen von zuhause. Hat Vater und Mutter verlassen, aber nicht, um seinem Weib anzuhangen, wie geschrieben steht; das wäre ja noch angegangen. Nein, er ist weggegangen, weil er sich zu Höherem berufen wusste: das Reich Gottes verkündigen und vorleben.
Und das Reich Gottes, wie Jesus es versteht, ist nicht das Heile-Familien-Leben. Im Gegenteil: Es kann sogar Familienbande zerreißen: Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert, kann Jesus sagen (Matthäus 10,37). Zumindest bei seinem Jünger Petrus ist es ziemlich sicher, dass er seine Frau zuhause hat sitzen lassen, um Jesus nachzufolgen. Und sein späterer Jünger Paulus meinte: Familie ist nur eine Notlösung; als Single kann ich dem Herrn besser dienen. So gesehen: Mönchtum und Zölibat haben schon ein paar gute, biblische Gründe für sich. Und auch wenn ich nicht so leben kann und will, mir nötigt diese katholische Entschiedenheit auch Respekt ab.
Meine liebe Frau (die heute mit uns ihre Tauferinnerung begeht), ist nicht als Kind getauft worden, sondern erst als Jugendliche, mit 19 Jahren. Sie erinnert sich also tatsächlich noch an ihre Taufe. Für sie war das auch ein Schnitt in ihre Familienbande hinein. Ihr Vater, ein überzeugter Kommunist, hat über ein halbes Jahr lang nicht mehr mit ihr geredet. – Auch das kann eine Konsequenz der Taufe sein. Aber sie hat eine neue Familie hinzugewonnen: Brüder und Schwestern in der Jungen Gemeinde und in der Studentengemeinde, christliche Freunde, in deren Gemeinschaft sie Heimat gefunden hat; mit manchen von ihnen ist sie heute noch herzlich verbunden. Auch das ist Familie. Familie Gottes.
Jesus will nicht weniger Familie, sondern mehr Familie. Familie nicht nur, wo Kinder sind. Familie nicht nur, wo Mann und Frau zusammen leben. Familie nicht nur, wo Alte und Junge füreinander sorgen. Familie nicht nur, wo wir uns bei Geburtstagen, Hochzeiten, Todesfällen – und natürlich Kindtaufen – treffen. Jesus sagt: Familie ist, wo Gott ist. Oder auch andersherum: Wo Gott ist, da ist Familie.
Da sitzen sie eng gedrängt um ihn herum und lauschen seinen Worten. Da diskutieren sie miteinander, was Gottes Wille ist. Da bringen sie Kranke und Behinderte und Kinder mit, damit er sie anrührt, damit es ihnen und allen miteinander besser geht. Da treffen sie sich im Haus eines stadtbekannten Betrügers, und der sagt: „Ich gebe zurück, was ich ergaunert habe.“ Da treffen sie sich bei einem angesehenen und rechtschaffenen Gemeindeglied, und eine Hure salbt Jesus die Füße. Und überall da ist Gottes Familie: Menschen, die nach Gottes Willen fragen und ihn tun. Und bei ihnen allen wird etwas gut, wird etwas heil, wird etwas besser, als es vorher war. Da ist Familie Gottes. Und ob sie dabei als Schwestern und Brüder, Eltern und Kinder, Tanten und Neffen geboren sind, spielt keine Rolle. Sie alle sind Jesu Verwandte.
Das passt auch, wenn wir ein Kind taufen. Wir haben T. im Gottesdienst der Gemeinde getauft. Weil er nicht nur seinen Eltern und seiner Schwester, seinen Großeltern und seinen Paten willkommen ist. Er ist Gott willkommen. Er ist uns willkommen in der Gemeinde Jesu.
Und wir? Sind wir als Christen, sind wir in der Gemeinde füreinander da, helfen und unterstützen einander, diskutieren und reden und feiern miteinander, hören miteinander auf Jesu Worte und heilen und segnen einander? Ist unser Leben in der Familie Jesu besser als ohne ihn? Und merkt man uns das an? – Jedenfalls müsste es so sein.

Liebe Schwestern und Brüder – habe ich zu Beginn gesagt. Und ich will es auch künftig so halten und euch so ansprechen. Dass wir es merken: Ja, wir sind Schwestern und Brüder Jesu, Familie Gottes, Geschwister im Herrn.