Sonntag, 17. September 2017

Predigt am 17. September 2017 (14. Sonntag nach Trinitatis)

Es kam zu Jesus ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: „Willst du, so kannst du mich reinigen.“ Und es jammerte ihn, und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: „Ich will’s tun; sei rein!“ Und alsbald wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. Und Jesus bedrohte ihn und trieb ihn alsbald von sich und sprach zu ihm: „Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.
Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, sodass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; und sie kamen zu ihm von allen Enden.
Markus 1, 40-45


An manchen Stellen ist die deutsche Sprache einmalig. Zum Beispiel, wenn sie für einen Lepra-Kranken das Wort Aussätziger verwendet. Ja, es ist inzwischen ein veraltetes Wort, und doch steht es noch durchweg in den deutschen Bibelübersetzungen, da, wo im Urtext lepros steht. Es ist sogar sprichwörtlich geworden im Deutschen: Man behandelt jemanden wie einen Aussätzigen. (Nein, natürlich tut man das nicht!) Aber weiß überhaupt noch jeder, der das sagt, was damit einmal gemeint war?
Der Aussätzige ist ein Ausgesetzter. Herausgesetzt aus der Gemeinschaft der Menschen. Zur Zeit Jesu lebten Aussätzige außerhalb der Ortschaften. Man stellte ihnen von ferne Nahrung hin. Jeder direkte Kontakt war verboten. Wenn ein Aussätziger sich anderen näherte, dann musste er „Unrein, unrein!“ rufen.
Es waren gute Regeln – für die andern. Denn Aussatz, Lepra, ist ansteckend. Sie wussten damals nichts von Bakterien und Infektionen. Aber sie ahnten etwas davon, indem sie die Krankheit für eine Unreinheit hielten. Und Unreinheit, das wissen wir, kann krank machen. Wir bringen ja schon den Kleinsten das Händewaschen bei.
Gute Regeln für die andern – schreckliche Regeln für den Betroffenen. Warst du gestern noch ein angesehener Mitbürger, Familienvater, Handwerksmeister, konnte dich morgen schon die Diagnose Aussatz – Lepra zum Aussätzigen machen, der in zerrissenen Kleidern draußen vor der Stadt leben musste.
„Unrein, unrein!“ Und die Unreinheit kam nicht von außen. Sie ging nicht weg durch Händewaschen. Sie kam von innen und zeigte sich außen am Körper. Und viele glaubten, dass sie gar nicht aus dem Körper kam, sondern aus der Seele. Welche Schuld, welche Verfehlungen verunreinigten einen Menschen so sehr, dass selbst sein Leib davon verunreinigt würde!
Aussätzig, ausgesetzt.
Herausgesetzt aus allem, was normales Leben ist:
Heraus aus der Familie, aus der Arbeit, aus dem Freundeskreis.
Heraus aus der zivilisierten Menschheit.
Noch lebendig – und doch schon wie tot.
Dazu ein Leib, der noch lebend schon zu sterben beginnt.
Ausgesetzt der Einsamkeit – oder der Gemeinschaft mit denen, mit denen man noch eben um keinen Preis Gemeinschaft haben wollte: der Gemeinschaft der Ausgesetzten, der Aussätzigen.
Es ist wie Gefängnis.
Oder Psychiatrie.
Und es gibt kein Zurück.
Nur theoretisch.
In der heiligen Schrift steht, dass Priester die Heilung von Aussatz bestätigen sollen.
Aber hat es das jemals gegeben?
Wenn du einmal ein Aussätziger geworden bist, wenn sie dich einmal abgeschrieben haben, verurteilt, ausgestoßen, wenn du einmal das Etikett umgehängt bekommen hast „Der ist anders; der gehört nicht zu uns“, wird es jemals ein Zurück geben, einen Neuanfang?

Und es kam zu Jesus ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: „Willst du, so kannst du mich reinigen.“ Und es jammerte ihn, und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: „Ich will’s tun; sei rein!“

Da ist einer, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat.
Und ein anderer, dem das Elend noch zu Herzen geht.
Einer, der glaubt, dass das Unmögliche möglich ist.
Und ein anderer, der das Unmögliche wirklich werden lässt, weil er kann und will.
Jesus tut das Unmögliche:
Er streckt die Hand aus zu dem, der sonst alle auf Abstand hält.
Er berührt den Unberührbaren.
Er verunreinigt sich an dem Unreinen.
Und macht ihn rein.
Es ist das ganz Unmögliche, das nur bei Gott möglich ist: dass ein unheilbar Kranker geheilt wird.
Aber es ist auch das ganz Unmögliche, das bei Menschen möglich ist: dass einer sich für den andern unrein macht. Dass einer sich für den andern die Finger schmutzig macht und vielleicht auch mehr als die Finger.
Wenn Eltern ihren Kindern oder auch wenn Kinder ihren Eltern den Hintern abwischen, dann ist das sowas.
Und wenn einer dem andern den Hintern rettet und dabei sein eigenes Leben riskiert, dann ist das sowas.
Jesus macht sich die Finger schmutzig. Er berührt den Unreinen und riskiert, seine eigene gottgleiche Reinheit zu verlieren.
Er tut das immer wieder: Jedesmal wenn er sich mit Menschen einlässt, die nicht nur leiblich krank oder unrein sind, sondern deren Seelen schmutzig sind (und vielleicht auch verletzt): Zöllner, Huren, Sünder heißen sie in der Bibel.
Die sich selber für rein halten, rümpfen die Nase: Pharisäer heißen sie in der Bibel.
Aber Jesus ist nicht in die Welt gekommen, um uns Gottes porentiefe Reinheit zu präsentieren, sondern um sich auf unsere Unreinheit einzulassen und uns rein zu machen.
In letzter Konsequenz dann am Kreuz: Er nimmt die Unreinheit der ganzen Welt auf sich, er trägt die Sünde der Welt. Er stirbt an ihr, und macht uns dadurch rein – von allem, was uns verunreinigt und aus der Gemeinschaft mit Gott und Menschen herausgesetzt hat.
So weit, so gut, und so könnte die Geschichte schon enden: Jesus heilt. Jesus reinigt. Jesus vergibt. Und der Aussätzige ist kein Aussätziger mehr. Alles ist gut.

Es ist nicht alles gut.
Jesus sagt nicht: „Geh zurück zu deiner Familie und freu dich deines Lebens.“
Jesus sagt nicht: „Geh in die Stadt und erzähle allen, was dir Großartiges geschehen ist (und vergiss nicht zu erwähnen, wer es war, der dich geheilt hat!).“
Jesus sagt: „Geh zum Priester. Der kann überprüfen und bestätigen, dass du geheilt bist und gereinigt bist. Und dann bringe das vorgeschrieben Opfer dar. Dass alles seine Ordnung hat. Dann erst ist alles gut.
Und sonst sagst du niemandem ein Wort.“
Nur, wie soll das gehen: niemandem etwas sagen?
Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, hat Jesus ja selbst gesagt. (Und weil ich es immer häufiger höre, dass aus dem Wes das Herz … ein Wem das Herz … wird, sage ich es noch mal, wie es wirklich gemeint und richtig zu übersetzen ist: Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über.)
Das Herz des geheilten Aussätzigen ist sicher übervoll: von Freude, von Dankbarkeit, von Begeisterung, von Hoffnung, von Leben. Denn das Unmögliche ist wahr geworden: Er lebt wieder, er ist nicht mehr aussätzig, nicht mehr isoliert, er gehört wieder dazu! Und darum setzt er sich als erstes der neu zurückgewonnenen Gemeinschaft der Menschen aus. Er stürzt sich ins Leben. Er badet in der Menge derer, für die er gerade eben noch unberührbar war. Wer wollte ihm das verdenken?
Jesus. Er wollte es anders. Nicht Spektakel und Mirakel. Nicht den Ruhm des Wundertäters. Denn so geht es dann weiter: Kaum dass Jesus einen Ort betritt, sind die Massen um ihn herum. Alle wollen ihn sehen, alle erwarten etwas von ihm. Große Worte, aber mehr noch: große Wunder.
Nur diejenigen, die Jesus am nötigsten brauchen, sind nicht dabei. Die sind immer noch draußen vor der Stadt: unrein und aussätzig. Die können zu keiner Massenveranstaltung gehen.
Oder sie sind alt und pflegebedürftig und kommen nicht mehr vor die Tür.
Oder sie sind wirklich richtig krank und schwach.
Oder sie sitzen im Gefängnis.
Oder in der Psychiatrie.
Oder sie haben einfach Angst vor vielen Menschen und öffentlichem Aufsehen.
So viele Aussätzige, so viele Ausgesetzte, denen die Berührung mit Jesus gut tun würde. Aber sie bleiben ausgeschlossen.
Und dann ist da auch Jesus selbst. Er flieht vor den Massen, vor der Gemeinschaft der Menschen, immer wieder. Er zieht sich zurück an einsame Orte. Jesus ist offenbar kein extrovertierter Typ. Keiner, der immer andere um sich herum braucht, damit es ihm gut geht. Im Gegenteil, er sucht immer wieder die Einsamkeit. Das Allein-Sein. Dann geht es ihm gut. Denn Allein-Sein heißt für ihn: Allein sein mit Gott.
Jesus, der sich der Unreinheit und dem Aussatz der Welt aussetzt, braucht die Augenblicke, in denen er aussetzen kann, und in denen er sich der Liebe und der Berührung durch seinen himmlischer Vater aussetzt. So empfängt er die Kraft, auch wieder für andere da zu sein.

Was für eine merkwürdig gegenläufige Geschichte:
Ein Aussätziger tritt aus der Einsamkeit heraus, wird von Jesus berührt und kann zurückkehren in die Gemeinschaft der Menschen. Er gehört wieder dazu. Er ist kein Aussätziger mehr.
Und Jesus kommt aus der Gemeinschaft der Menschen, trifft den einzelnen, den Aussätzigen, berührt ihn, den Unberührbaren. Und zieht sich danach ganz zurück an die einsamen Orte, wo sonst nur Aussätzige leben.

Und wir? Wahrscheinlich kennen wir beide Bewegungsrichtungen: Hinein in das große Miteinander und auch Heraus aus dem Miteinander. Manchmal wollen wir das eine nicht und manchmal das andere: Uns der Einsamkeit aussetzen oder uns den anderen Menschen aussetzen, das kann beides belastend sein. Und es kann beides gut tun. Je nachdem, wer wir sind und wie wir drauf sind.
Gut ist es, wenn unsere Gemeinschaft auch christliche Gemeinschaft ist: Gemeinde, in der wir Jesus begegnen.
Gut ist es, wenn auch unsere Einsamkeit ein Ort ist, an dem wir Jesus begegnen.
Er kann und will uns berühren, uns rein machen und heil.

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