Sonntag, 12. November 2017

Predigt am 12. November 2017 (Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres)

Jesus trieb einen Dämon aus, der war stumm. Und es geschah, als der Dämon ausfuhr, da redete der Stumme, und die Menge verwunderte sich. Einige aber unter ihnen sprachen: „Er treibt die Dämonen aus durch Beelzebul, den Obersten der Dämonen.“ Andere aber versuchten ihn und forderten ein Zeichen vom Himmel.
Er aber kannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: „Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet und ein Haus fällt über das andre. Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die Dämonen aus durch Beelzebul. Wenn aber ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Wenn ein gewappneter Starker seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute. Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“
Lukas 11, 14-23

Liebe Schwestern und Brüder,
vor einer Woche habe ich euch begrüßt mit der Freude, nach einem Vierteljahr in unseren Gemeinden, nun auch den ersten Gottesdienst mit euch in Sebnitz feiern zu können. Heute bin ich schon wieder in Sebnitz, und ich muss euch was Schrecklich-Schlimmes sagen: Das heute wird für sehr lange oder für immer mein letzter Gottesdienst sein, den ich als Pfarrer mit euch feiere. Vor vier Tagen habe ich die Diagnose bekommen: Da ist ein bösartiger Tumor in meiner Bauchspeicheldrüse, und der hat nicht minder böse Kinder in der Leber. Jetzt weiß ich, wieso ich mich die letzten Wochen und Monate fast ständig mit Schmerzen herumgequält habe und auch für die Gemeinde nicht die Energie hatte, die ich haben wollte. Morgen gehe ich ins Krankenhaus, und dann sehen wir weiter, was getan werden kann.
*
Heute sollen wir über Dämonen reden. An Tagen und in Wochen wie diesen, da weißt du, dass es sie gibt: Mächte der Finsternis, die dich in den Abgrund ziehen wollen, die dich kaputt machen wollen, die das Leben zerstören, selbst auf die Gefahr hin, dabei selber mit kaputtzugehen. Wie so ein Tumor: falsches Leben, das das wahre verdrängt, zerstört, auffrisst, um am Ende mit ihm zugrunde zu gehen.
Da ist der Dämon der Angst und der Verzweiflung. Der dir den Boden unter den Füßen wegzieht. Weil du deine Pläne und Wünsche wegwerfen musst. Weil du dich der Endlichkeit und dem Sterben stellen musst, das du bisher immer noch in eine ferne Zukunft vertagt hattest. Weil du mit denen mitleidest, die um dich leiden und bangen, weil sie dich lieben.
Da ist der Dämon des Zornes, der Bosheit, des Zynismus. Wenn du wütend wirst auf die Ärzte, die dich nicht ausreichend, schnell und genau genug untersucht haben (wie du meinst). Wenn du die anderen um dich herum ihre Ohnmacht spüren lässt und anfängst, dich über ihre Hilflosigkeit lustig zu machen, wo du doch selber ohnmächtig und hilflos bist.
Oder der Dämon der Wehleidigkeit und des Selbstmitleids. Du bist der ärmste und bedauernswerteste Mensch auf der Welt, du hast doch so viel Gutes getan, du hast doch das Wort Gottes verkündigt und Menschen geholfen, du hast das doch nicht verdient.
Manchmal aber auch der Dämon der Selbstanklage. Du hast nicht genug getan, du hast die Zeit nicht ausgekauft, du hast mit deinen anvertrauten Gaben nicht gewuchert, zu viel für dich behalten und zu wenig weitergegeben. Nun ist es zu spät.
Und da ist der stumme Dämon, der Geist der Sprachlosigkeit. Du willst dich einfach in dein Loch verziehen und mit keinem reden. Du schämst dich. Es ist dir unangenehm.
Aber mehr noch als bei dir triffst du diesen Dämon bei anderen. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen; sie ziehen sich vielleicht sogar zurück, wenn du sie am meisten brauchst. (Das ist nicht meine Erfahrung bis jetzt, aber die von anderen, die ich kenne.)
Manche reden auch und bleiben trotzdem stumm, weil sie um die Wahrheit herumreden, weil sie das Kind nicht beim Namen nennen. „Vom Sterben reden wir noch nicht“, beschied mich ein Arzt. Ja, vielleicht, hoffentlich ist das noch eine Weile nicht dran, das Sterben. Aber wann, bitteschön, wann wollen wir anfangen darüber zu reden? Wenn ich tot bin? Wir haben so einen Reflex, das Böse, das Unangenehme nicht auszusprechen, wie bei Harry Potter den Namen von Lord Voldemort; aber der, der ihn auszusprechen wagte, hat ihn besiegt. Wir müssen den Krebs Krebs nennen und die Angst Angst und das Sterben Sterben und den Teufel Teufel.
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Jesus trieb einen Dämon aus, der war stumm. Und es geschah, als der Dämon ausfuhr, da redete der Stumme, und die Menge verwunderte sich.
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Ich habe den stummen Dämon den Geist der Sprachlosigkeit genannt. Das ist nicht ganz korrekt. Es gibt auch eine gute Sprachlosigkeit. Die nennen wir nicht Stummheit, sondern Schweigen. Stummheit ist, wenn nicht gesagt wird, was gesagt werden muss. Wenn möglicherweise sogar geredet wird, aber die Dinge nicht beim Namen genannt werden. Wenn herumgeeiert und gelogen wird. Schweigen ist etwas anderes: Schweigen ist Reden ohne Worte. Oder Hören auf die Worte eines anderen. Hiobs Freunde sind zu ihm gekommen und haben eine Woche mit ihm geschwiegen. Erst als sie ihren Mund aufgetan haben, wurde es Mist. Weil sie das Falsche geredet haben, den Dämonen zu Munde.
Jesus hat den stummen Dämonen ausgetrieben. Das ist logisch. Denn Jesus ist das Wort. Nicht die Stummheit. Jesus ist das Wort Gottes, das die Wahrheit zur Sprache bringt. Das Wort Gottes, das unsere stumme Sprachlosigkeit überwindet, das unsere leeren und falschen Worte überwindet. Gott kommt zur Welt und redet. Und durch sein Wort vertreibt er die Dämonen. Und da, wo sein Wort ankommt, ist das Reich Gottes.
Weil das so ist, habe ich gesagt: Ich muss die Dinge heute beim Namen nennen. Nicht rumeiern, nicht verschweigen, nicht vertrösten, was mich betrifft. Und auch, was unsere Dämonen betrifft. Wo wir sie beim Namen nennen, ist ihre Macht schon fast gebrochen. Sie wollen, dass wir verstummen. Sie wollen, dass wir verzagen. Sie wollen uns böse machen. Sie wollen, dass wir an Gottes Macht und Liebe verzweifeln. Sie wollen uns töten.
Aber es ist einer gekommen, der stärker ist, als sie. Der, der das Wort ist und das Wort sagt, das uns auch selber wieder zu Wort kommen lässt.
Jesus ist der Fingerzeig Gottes, dass Gott den Tod und den Teufel, die Sünde und die Verzagtheit, die Angst und den Zweifel überwindet.
Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.
Wir nennen das Evangelium – gute Nachricht.
Und dafür stehe ich, dafür habe ich als Pfarrer immer gestanden, dass am Ende nicht die schrecklich-schlimme Nachricht steht, sondern die gute Nachricht:
Das Reich Gottes ist zu euch gekommen.
*
Ich bitte euch heute: Stellt euch auf die Seite Christi! Stellt euch gegen die Dämonen, vor allem gegen die böse Sprachlosigkeit! Sprecht gute Worte, ehrliche Worte, wahre Worte miteinander! Sprecht zu Christus im Gebet! Und, ja, bitte betet auch für mich, für meine Frau, für meine Eltern und Kinder. Um mit Luther zu sprechen: Dass der böse Feind keine Macht an uns finde.

Sonntag, 5. November 2017

Predigt am 5. November 2017 (21. Sonntag nach Trinitatis)

Jesus sprach zu seinen Jüngern: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.
Wer Vater oder mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“
Matthäus 10, 34-39

Liebe Schwestern und Brüder,
immer wenn es zu harmonisch wurde in unserem Bibelgesprächskreis auf Teneriffa, wenn etwa alle für die ökumenische Verständigung waren oder Verständnis für Vertreter anderer Religionen zeigten, da hat er mit der Faust auf den Tisch gehauen und gesagt: „Jesus hat gesagt: Ich bringe das Schwert, und nicht Frieden. – Ich bringe das Schwert.“ – „Ja, aber …“, wir haben immer wieder versucht ihn zu beruhigen und Argumente zu finden gegen das Schwert, gegen die Konfrontation. Er ist dann manchmal zu mir gekommen nach der Bibelstunde und hat sich entschuldigt, dass er sich so aufgeregt hat, aber das stünde ja nun mal so geschrieben…
Ja, das steht so geschrieben. Jesus sagt, dass er nicht den Frieden bringt. Jesus sagt, dass er Streit bringt, Entzweiung.
Jesus – ein Pazifist, ein Peacer? – Vergiss es!
Jesus – ein Familienmensch? – Vergiss es!
Die heile Familie interessiert ihn nicht. Er lässt seine Mutter und seine jüngeren Geschwister allein zurück. Er ruft Petrus in die Nachfolge, der als Fischer eine Familie ernährt hat – er lässt sie zurück.
Er umgibt sich mit Frauen, die ihre Männer zuhause sitzen lassen, um mit ihm durch die Gegend zu ziehen.
Er sagt dem, der ihm folgen will, aber erst noch seinen Vater begraben möchte: „Lass die Toten ihre Toten begraben!“
Er betätigt sich nicht in der Friedensbewegung, geht nicht zu den Römern, um mit ihnen gute Lebensbedingungen für sein unterdrücktes Volk auszuhandeln; er kündigt Krieg an, die Zerstörung Jerusalems.
Und auch für sich selbst lehnt er jeden Kompromiss ab, stirbt als Märtyrer und nimmt es in Kauf, dass es seinen Jüngern und Nachfolgern nicht besser gehen wird.
Immerhin, er kündigt es ihnen an. Sie müssen wissen, worauf sie sich einlassen.
Das ist Jesus. Geradezu unerträglich in seiner Härte, in seinem Anspruch.
*
Wie weit sind wir als christliche Kirchen in Mitteleuropa, als volkskirchlich geprägte Gemeinden davon entfernt?
Wir haben Jesus domestiziert. Wisst ihr, was das ist: domestizieren? So heißt das, wenn die Menschen aus einem Wildtier ein Haustier machen. Das braucht viele Generationen, aber wir kennen das:
Aus reißenden Wölfen werden Hunde, zuletzt Schoßhündchen.
Aus wilden Keilern werden Hausschweine.
Aus stolzen Gemsen werden zahme Zicklein.
Aus gewaltigen Auerochsen werden Rindviecher.
Und aus Jesus von Nazareth wird das herzliebe Jesulein.
Und aus einer radikalen Weltuntergangssekte wird eine Großorganisation mit elektronischer Mitgliederverwaltung und staatlich eingezogener Kirchensteuer.
Wir haben Jesus domestiziert. Er soll uns Mut machen für Frieden, Gerechtigkeit und Schöpfungsbewahrung. Er soll unserer Seele gut tun, wenn wir traurig sind. Und uns in Ruhe lassen, wenn wir fröhlich sind. Er soll uns Harmonie bringen und ein gutes Gewissen. Bei unseren faulen Kompromissen die Augen zudrücken und die Sünde rechtfertigen. Und alle soll er in den Himmel bringen. Und wenn jemand zu böse dafür ist, dann soll er ihn gut machen. – Unser liebes Jesulein, der gute Heiland.
Wir haben Jesus domestiziert. Ihn eingebunden in unsere kirchlichen Aktivitäten, ihm seinen Platz gegeben in der kirchlichen Liturgie, die oft genug einem Eiapopeia oder Hokuspokus näher kommt als der Anbetung im Geist und in der Wahrheit.
*
Manchmal hört oder liest einer ein Wort aus der Bibel, ein Wort von Jesus, und ist geschockt, überwältigt, weil Jesus so anders ist, so radikal, so brennend heiß – nicht so lauwarm wie unser Kirchenkaffee. Der geht dann los und tut etwas verrücktes. Verkauft, was er hat und geht in die Wüste, um dort auf Gott zu hören – der heilige Antonius, der erste Mönch. Oder er schlägt sein Erbe aus und sagt sich von seinem irdischen Vater los, um allein dem himmlischen Vater in Armut zu dienen – der heilige Franziskus von Assisi. Oder sie schenkt als Adlige ihre Besitztümer weg und geht als besitzlose Bettlerin zu den Ärmsten und Schwächsten – die heilige Elisabeth von Thüringen. Oder er gibt sein Studium auf und geht ins Kloster – oder sagt sich ein paar Jahre später von den Klostergelübden los und kehrt zurück in die Welt, setzt sein Leben aufs Spiel für die Freiheit eines Christenmenschen – der heilige Martin Luther, der nicht Heiliger genannt werden möchte, weil er weiß, dass er ein Sünder ist. Oder, oder, oder. So viele, die bereit waren, ihr Leben für Jesus zu verlieren, und die gerade so das wahre Leben gefunden haben.
Sie alle wurden für verrückt gehalten, zu radikal für diese Welt. Aber das hatten sie mit ihrem Meister Jesus gemein. Den haben sie auch für verrückt gehalten – erst seine Mutter und seine Geschwister, dann die Pharisäer und die politischen Führer, schließlich der römische Statthalter, der verurteilte ihn zum Tod am Kreuz.
Unser domestizierter Jesus – der wäre doch gar nicht erst ans Kreuz gegangen. Oder? – Jedenfalls haben wir, hat die christliche Kirche selbst sein Martyrium am Kreuz noch abgemildert, ihm einen Sinn gegeben und es vergoldet. Wir müssen uns schon viel Mühe geben, um uns diese Grausamkeit vorzustellen, wenn wir unsere Kruzifixe vor uns haben.
*
Unser Problem ist – schon seit fast 2000 Jahren ist das unser Problem –, dass wir nicht anders können, als Jesus zu domestizieren. Der wilde, ursprüngliche Jesus ist für uns nicht erträglich. Das war er schon zu seiner Zeit nicht. Darum sind ihm bis zu seinem Kreuzestod ja auch kaum mehr als 100 Personen wirklich gefolgt. Und als es ernst wurde, haben sich auch von denen die meisten abgewandt. Dem Johannesevangelium nach standen nur fünf seiner Anhänger am Kreuz, davon vier Frauen. Sein Apostel Judas hatte ihn verraten, sein Apostel Petrus hatte ihn verleugnet. Die übrigen Neun waren weggelaufen. Soviel zur Kreuzesnachfolge.
So ist es weitergegangen. Für einige hatte Christsein radikale Konsequenzen und einen hohen Preis. Für die Mehrheit eher nicht. Für sie stand der Lebensgewinn im Vordergrund: eine neue Art von Gemeinschaft, Fürsorge für Arme und Schwache, Hoffnung auf ein besseres Leben vor und nach dem Tod.
Und so ist es bis heute. So verkaufen auch wir den christlichen Glauben: Du kannst doch nur gewinnen: Freunde und Geschwister. Du kannst mitarbeiten und dich für gute Zwecke engagieren – das tut deinem Gewissen gut. Du kannst wunderbare Musik erleben – von Bach bis Lobpreis. Du kannst die Gewissheit bekommen, dass Jesus für dich alles gut macht, dich durchs Leben führt und deine Probleme löst. Und du kannst auf ein Leben nach dem Tod hoffen. Ist das nicht wunderbar?
Wir können nicht anders. Wir sind nicht radikal genug, um die Worte Jesu so zu ertragen und so zu leben, wie sie dastehen. Wir haben aus Jesus den lieben Heiland gemacht, den Familien-Kuschel-Friedens-Jesus. Und mit dieser Spannung müssen wir leben: dass wir als einzelne Christen und als christliche Kirche hinter dem eigentlichen Anspruch Jesu zurückbleiben.
Wir können nicht anders. Aber ER kann anders. ER kann Menschen verändern. Aus seinen Jüngern, die vom Kreuz weggelaufen sind, sind Glaubenszeugen geworden, die bis auf einen – nämlich genau dem, der unter dem Kreuz anwesend war – alle ihr Leben für ihren Herrn gelassen haben.

Jesus kann Menschen verändern. Und darum geschieht es doch immer wieder, bis heute, dass es einen oder eine ergreift und mitreißt und verändert, so dass er oder sie alles gibt oder auch alles aufgibt, die Brücken abbricht und Konflikte nicht scheut, um Jesus zu folgen.
Wie ist es bei dir?

Sonntag, 22. Oktober 2017

Predigt am 22. Oktober 2017 (Kirchweihgottesdienst)

Jesus sprach: „Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen, und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden? Es ist wie mit einem Senfkorn: Wenn das gesät wird aufs Land, so ist’s das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden; und wenn es gesät ist, so geht es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt große Zweige, sodass die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können.“
Markus 4, 30-32

Jesus liebt das Kleine.
Kleine Senfkörner.
Meistens übersehen.
Manchmal zum Würzen gebraucht.
Manchmal um neuen Senf zu säen.
Auf ein Korn mehr oder weniger kommt es nicht an, denkt jeder.
Aus einem einzelnen Korn kann eine riesige Pflanze werden, sagt Jesus.
Neue Körner: neuer Samen, neuer Senf.
Und grüne Blätter.
Hoffnungsgrün.
Und Schatten für die Vögel.
Jesus liebt das Kleine:
Kleine Kinder.
Lasst die Kinder zu mir kommen; ihnen gehört das Reich Gottes.
Er segnet sie.
Wir taufen sie.
In seinem Namen: Ihnen gehört das Reich Gottes.
Jesus liebt das Kleine:
Kleine Sünder.
Wie Zachäus, den Zöllner (im Evangelium).
Er schaut ihm in die Augen.
Und ihm wird das kleine Herz ganz groß.
Er macht wieder gut, was er schlecht gemacht hat.
Ihm ist Heil widerfahren.
Das ist das Reich Gottes.
Jesus liebt das Kleine:
Kleingläubige.
Die nicht mehr ein noch aus wissen:
Ich glaube, hilf meinem Unglauben!
Und dieser kleine Glaube, so winzig wie ein Senfkorn, ist genug.
Jesus liebt das Kleine.
Kleine Worte.
Senfkorngeschichten:
Vom Wachsen und Gedeihen.
Weizenkorngeschichten:
Vom Sterben und Auferstehen.
Vogelgeschichten:
Von denen, die nicht säen und nicht ernten, und die der himmlische Vater doch versorgt.
Kleine-Leute-Geschichten:
Vom Bauern, der sät und erntet.
Von der Bäckerin, die mit Sauerteig Brot bäckt.
Vom Weingärnter, der seinen Weinstock hegt und pflegt.
Jesus liebt die kleinen Leute.
*
Kirchweihsonntag.
Eine kleine Kirche in einem kleinen Dorf.
Ulbersdorf war immer ein kleines Dorf.
Und die Ulbersdorfer Kirche war immer eine kleine Kirche.
Aber schon vor bald 600 Jahren gab es sie, den Vorgängerbau unserer Kirche, die nun auch schon seit dem 17. Jahrhundert hier steht.
Eine kleine Kirche für eine kleine Gemeinde.
Schon immer.
Heute mag sie uns noch kleiner vorkommen, wo sie schon lange Teil einer größeren kleinen Gemeinde geworden ist: Lichtenhain-Ulbersdorf, und bald Teil einer noch größeren kleinen Gemeinde sein wird: Sebnitz-Hohnstein. Da taucht der Name Ulbersdorf dann gar nicht mehr auf.
Aber hier war Kirche, hier ist Kirche und hier wird Kirche sein.
Auch nächstes Jahr noch.
Wir werden hier Gottesdienst feiern.
Manchmal mit ganz wenigen.
Und manchmal mit ein paar mehr:
Wenn Weihnachten ist oder Ostern.
Oder Erntedank oder Kirchweih oder Hubertustag.
Wenn ein Kind getauft wird.
Oder ein alter Mensch zu Grabe getragen.
Hier ist Kirche, wenn ein Wort der Bibel gelesen wird.
Hier ist Kirche, wenn einer betet: laut am Altar, oder still in der Bank.
Hier ist Kirche, wenn wir Brot und Wein teilen und darin Gottes Liebe schmecken.
Hier ist Kirche, wenn wir dieses Haus zuversichtlicher verlassen, als wir es betreten haben, fröhlicher, dankbarer, getroster, kurz: wenn wir gesegnet weiter gehen.
Hier ist Kirche – und nicht nur in diesem Haus.
Sondern in unseren Herzen.
Weil da Glaube ist. Und Hoffnung. Und Liebe.
Vielleicht nur kleiner Glaube, geringe Hoffnung und wenig Liebe. Vielleicht nur so klein wie Senfkörner. Aber immerhin.
*
Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen, und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden?
Wir können es vergleichen mit einer Stadt voller Licht und Wärme, mit sprudelnden Quellen, wo Gott selber da ist und alle Tränen abwischt, wo keiner mehr trauern muss und keiner mehr Schmerzen hat. (So wie wir es in der Lesung aus der Offenbarung gehört haben.) Wir können es mit einem Baum vergleichen, der groß ist und grün und Früchte trägt und Schatten spendet.
Und dann können wir traurig werden, weil wir keinen Baum sehen, sondern nur ein paar Senfkörner: unseren Kleinglauben, unsere Mini-Hoffnung, unsere Wenig-Liebe. Wir können verzagen, weil wir keine Gottesstadt haben, sondern nur ein kleines Dorf mit einer kleinen Kirche und einer kleinen Gemeinde, die schon lange nicht mehr für sich selbst existieren kann.
Aber wir können auch auf Jesus hören.
Und staunend zur Kenntnis nehmen:
Jesus liebt das Kleine.
Er erzählt vom großen Reich Gottes und beginnt mit dem einzelnen kleinen Senfkorn.
Er sagt: Das Reich Gottes ist ganz nahe.
Und er geht nicht zuerst in die große Gottesstadt, sondern bleibt in der Nähe,geht von Dorf zu Dorf, dort in Galiläa, in der Provinz, am See bei den Fischern und auf dem Land bei den Weinbauern und den Weizensäleuten und den Senfgärtnern.
Er macht kleine Worte.
Er macht kleine Wunder.
Er sät kleine Senfkörner des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.
Jesus liebt das Kleine.
Jesus liebt die Kleinen.
Er liebt auch uns.
Kleine Leute.
Kleine Sünder.
Kleine Kinder.
Kleingläubige.
Auch bei uns wächst das Reich Gottes.
Geben wir unseren Senf dazu!

Sonntag, 24. September 2017

Predigt am 24. September 2017 (Erntedanktag)

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: „Siehe, hier bin ich.“
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne“.
Jesaja 58, 7-12

Liebe Schwester, lieber Bruder,
du hast die Wahl. Heute an der Urne. Oder du hast schon gewählt. – Ich darf nicht, weil ich noch keine drei Monate wieder in Deutschland lebe. So ein Quatsch!
Du hast die Wahl. Und irgendwie ist das auch komisch: Dass jetzt einer bestimmten Partei eine Stimme, meine Stimme fehlt, das ändert Nullkommafastnichts am Ergebnis. Und wo du dein Kreuzchen machst, das ändert auch Nullkommafastnichts am Ergebnis. Und doch macht die große Summe der Nullkommafastnichtse am Ende einen Unterschied. Deine Stimme bewirkt fast nichts, und sie ist doch wichtig.
Das ist nicht nur bei Wahlen so. Das ist überhaupt so. Du bist einer von über 80 Millionen Bundesbürgern – was willst du schon ändern? Du bist einer von über 7 Milliarden Weltbürgern – was kannst du schon für Einfluss nehmen auf das Weltgeschehen? Und doch: Die Mächtigen, die wirklich als einzelne etwas bewegen und entscheiden können – über Krieg und Frieden, über offene oder geschlossene Grenzen, über Leben und Tod –, die ganz Mächtigen fürchten die Stimmen der vielen Einzelnen. Darum versuchen sie immer wieder Wahlen zu beeinflussen, zu manipulieren, oder sie schaffen sie gleich ganz ab.
Du hast die Wahl. Du kannst dich entscheiden. Deine Wahl bewegt vielleicht nur eine Winzigkeit. Aber vielleicht kommt es gerade auf diese Winzigkeit an. So wie der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Sturm auslösen kann, so können deine Entscheidungen die Welt bewegen.
Kennst du #fedidwgugl? Das ist ein Hashtag, ein Kürzel auf Twitter und in anderen sozialen Netzwerken, den sich eine der Parteien unseres Landes ausgedacht hat. #fedidwgugl soll heißen „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Zuerst haben sich alle über dieses Kürzel kaputt gelacht. Aber vielleicht war diese scheinbare Ungeschicklichkeit mit so einem dadaistischen Kunstwort am Ende gar nicht so dumm. So bleibt der Claim tatsächlich irgendwie hängen: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ – Versteh mich nicht falsch! Ich will gar nicht für diese bestimmte Partei werben, ich nenne sie ja auch gar nicht mit Namen. Aber letztlich hat sie genau den Punkt getroffen, um den es geht, wenn du wählen gehst: In welchem Land willst du leben? Wie soll es aussehen, damit du gut und gerne da lebst? – Darum geht es letztlich, glaube ich fast allen, die sich heute zur Wahl stellen. (Außer denen, die Deutschland am liebsten abschaffen wollen.)

Du hast die Wahl, sagt Gott. Für ein Land, für eine Welt, in der du gut und gerne leben kannst. Und nicht nur du, sondern auch deine Nächsten und Übernächsten, deine Kinder und deine Kindeskinder.
Du hast die Wahl, nicht nur einmal aller vier Jahre. Sondern immer wieder, jeden Tag. Denn wie du leben willst, das entscheidest du heute und morgen und jeden Tag neu. Und wie deine Mitmenschen und deine Nachkommen leben, das entscheidest du hier und jetzt.
Du hast die Wahl, ob und wie viel du bereit bist zu teilen, abzugeben: von deinem Geld, von deiner Zeit, von deiner Liebe.
Du hast die Wahl, wie du mit deinem Mitarbeiter umgehst oder mit deinem Mitbewerber oder mit deinem Mitbewohner.
Du hast die Wahl, wie du andere behandelst: die anders aussehen, anders sprechen, anders denken, anders fühlen, anders wählen als du.
Vielleicht behandelst du sie doch am besten so, dass auch sie gut und gerne mit dir zusammen leben.
Denn kann es dir gut gehen, wenn es deinem Nächsten schlecht geht?
Du hast die Wahl, und deine Wahl hat Konsequenzen.
Willst du, dass es nur dir gut geht und dem anderen nicht? – Dann wird es keinem von euch gut gehen.
Willst du, dass sie dich gerecht behandeln, und gestehst dem anderen sein Recht nicht zu? – Dann werdet ihr beide benachteiligt sein.
Willst du, dass sie dich schätzen und respektieren und behandelst andere wie Dreck? – Dann werdet ihr beide keinen Respekt erfahren.
Willst du Gottes Segen haben und erbittest ihn nicht auch für den anderen? – Dann werdet ihr beide ungesegnet bleiben.
Du hast die Wahl, sagt Gott. Ich mache dir keine leeren Wahlkampfversprechen. Ich sage nicht, dass ich alle deine Probleme lösen werde. Ich verspreche dir nicht das Blaue vom Himmel und den Himmel auf Erden. Ich bin nicht damit zufrieden, wenn du dich aller paar Jahre (wie bei der Bundestagswahl) oder aller paar Monate (etwa Erntedank und Weihnachten und Ostern) oder aller paar Wochen (wie viele, die sich für gute Christen halten) mal bei mir in der Kirche sehen lässt und mich ansonsten in Ruhe regieren lässt. Denn ich regiere nicht, indem ich euch wie Marionetten oder  – hier in Hohnstein muss ich sagen: wie Kasperpuppen – nach meiner Pfeife tanzen lasse. Ich will in euren Herzen regieren.
Du hast die Wahl, ob du mich regieren lässt oder jemand anders oder etwas anders.
Deine Wahl wird nach außen sichtbar fast nichts verändern. Aber aus den vielen Fastnichtsen wird etwas Großes: eine Welt, in der wir, in der wir alle gut und gerne leben: das Reich Gottes.

Heute ist nicht nur Wahlsonntag. Heute ist Erntedank.
Wer mit uns Erntedank feiert, der hat auch eine Wahl getroffen. Er hat sich dafür entschieden, es nicht für selbstverständlich zu nehmen, dass wir in dieser Welt gut und gerne leben können. Er sieht den Segen, der gewachsen ist und er sagt Danke dafür.
Er sieht aber auch den Mangel, das, was fehlt zum guten Leben.
Und er sieht den Nächsten, den, der Mangel leidet, der auch gut und gerne leben will, und teilt mit ihm: Inzwischen mehr symbolisch die Früchte des Feldes und des Gartens. Und praktisch auch Geld und Gut und Zeit und Verständnis und Respekt und Liebe.

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!